Leichtathletik – das ist Sport für das ganze Leben. Eine lebendiger Einblick in unsere Abteilung.

Von Holger Albers, Anne & Ulf Restle

Push-Projekt: Issam Ammour auf der Bahn

In der Leichtathletik-Abteilung der Eintracht haben sich in den vergangenen 25 Jahren zwei Schwerpunkte ausgebildet. Dies geschah nicht unbedingt einem großen Plan folgend, sondern war eher die Folge unterschiedlicher und sich ständig wandelnder Rahmenbedingungen. Denn wie der Sport selbst, so ist auch das Umfeld dynamisch: Vom Zustand der eigenen Sportstätten bis zur neuesten Spielekonsole, von Trendsportarten bis zur Diskussion über Sport und die große Politik – letztendlich beeinflusst alles auch die Arbeit in einer einzelnen Abteilung der Eintracht.

Den ersten Schwerpunkt bilden Kinder, vorwiegend im Grundschulalter. Ihnen soll die Freude an dynamischer Bewegung vermittelt werden, um ausgestattet mit der richtigen Technik als notwendigem Rüstzeug beim Springen, Laufen oder Werfen mit guten Leistungen zu überzeugen. Dank engagierter Trainer gelingt dies mit sehr gutem Erfolg, wie herausragende Ergebnisse auf Landes- oder Bundesebene zeigen – nicht immer im Trikot der Eintracht, aber die Basis wurde bei uns gelegt.

Der zweite Schwerpunkt beginnt jenseits des 40. Lebensjahrs, wenn Sportler wieder – und manchmal sogar völlig neu – die Leichtathletik für sich entdecken. Zuweilen mag man glauben, die Sportwelt nehme die Senioren (das sind in der Leichtathletik alle Sportler ab dem 30. Lebensjahr!) nicht ernst. Wer aber die Erfahrung machen durfte, im Sprint von einem 70 Jahre alten Sportler locker abgehängt zu werden, oder gesehen hat, wie 50-Jährige in Sprungdisziplinen halb so alten Aktiven ihre Grenzen aufzeigen, der ändert seine Meinung. Da ist es folgerichtig, wenn die Sportlerinnen und Sportler in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Titeln und Medaillen bei Deutschen Meisterschaften, aber auch bei Welt- und Europameisterschaften einfahren konnten.

Warum engagiert man sich eigentlich?

Lohnt sich ein Ehrenamt? Die erste Antwort auf die Frage ist ein klares Nein, denn Ehrenamtliche bekommen kein Geld; im Gegenteil, sie bringen neben der Zeit oft noch eigenes Geld mit. Und wenn es doch mal eine Aufwandsentschädigung gibt, dann liegt sie doch deutlich unterhalb des Mindestlohns. Es gibt noch eine zweite Antwort, zu der komme ich später.

Warum also macht man das mit dem Ehrenamt? Das Klischee hat recht: Der Zufall spielt eine große Rolle und manchmal hat man einfach vergessen, an der passenden Stelle nein zu sagen. Die beispielhafte Geschichte beginnt mit einem interessierten Vater, der seine Tochter oft zum Leichtathletik-Training und zu Wettkämpfen begleitet. Da ist man Taschen- und Wasserträger, Fahrer und Claqueur, Motivator und Tröster – Eltern wissen, unabhängig von der Sportart, was ich meine.

Wer einige Male auf dem Sportplatz gesehen wurde, den ereilt unweigerlich die Frage, ob man nicht noch ein ganz klein wenig mehr machen möchte. Es wurde gerade ein stellvertretender Abteilungsleiter gesucht. Das sei ganz einfach, Aufgaben gebe es eigentlich nicht und auch nur ein paar Sitzungen im Jahr. Man lässt sich überreden, wird gewählt – einstimmig selbstverständlich, mangels Gegenkandidaten. Ein halbes Jahr später ist der Abteilungsleiter zurückgetreten und so wird man, ohne je diese Ambitionen gehabt zu haben, plötzlich Abteilungsleiter. Ein halbes Dutzend Aktenordner, die auf einem Parkplatz von Kofferraum zu Kofferraum wandern, und der Hinweis auf den nächsten Termin bilden die Einarbeitung.

Platz drei bei den Staffelmeisterschaften des Kreises Wiesbaden 2019: Klara Matic, Paulin Rodius, Lea Juric und Marla Reichhold (von links)

Der Rest ist Geschichte, denn diese Ereignisse liegen nun schon fast zwölf Jahre zurück und ich bin immer noch Abteilungsleiter. Damit zurück zur Frage, ob sich ein Ehrenamt lohnt. Natürlich lohnt es sich! Es führt dich mit neuen, interessanten Menschen zusammen, es gibt dir Anerkennung, Zuspruch, manchmal auch Kritik, vor allem aber das gute Gefühl, der Gemeinschaft einen kleinen Dienst zu erweisen. Arbeit im Verein ist Teamwork, auch in einer Individualsportart wie der Leichtathletik. Nur in einem guten Team, wie in dem der Leichtathletik-Abteilung, lassen sich die Herausforderungen meistern – und die sind nicht kleiner geworden in den letzten 25 Jahren.

Tradition – Training – Norderney

Seit rund 20 Jahren reist an Ostern eine Trainingsgruppe der Eintracht auf die Nordseeinsel Norderney. Die Initiative geht auf Norwin Terfoort zurück, einen früheren Trainer der Eintracht. Er war von der Leichtathletik-Gemeinschaft Lippe-Süd zu uns gewechselt und brachte die Idee seines ehemaligen Vereins vom Trainingslager im norddeutschen Reizklima mit. Kontakte wurden geknüpft, die Sportler der Eintracht konnten sich anschließen.


Gereist wurde stets mit der Bahn vom Mainzer Hauptbahnhof aus. Unglaublich, welche Gepäckmengen bei 20 Sportlern und Trainern da zusammenkommen! Ganz unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich der notwendigen Ausrüstung waren festzustellen, von kleinen Rucksäcken bis zu Überseekoffern war alles dabei.

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Rund sieben Stunden sollte die Fahrt dauern. Zeit also, sich gemütlich einzurichten. Manches Zugabteil glich dabei eher einem Süßwarenladen. Man könnte aus der Erfahrung heraus auch einen ganzen Beitrag über Pleiten, Pech und Pannen der Deutschen Bahn schreiben. Er könnte handeln von Verspätungen, von Fenstern, die von außen derart besprüht waren, dass man nicht hinausschauen konnte, von falschen Waggon-Reihenfolgen oder gleich ganz fehlenden Wagen, von Zügen, die falsch abbogen oder wieder in den Bahnhof zurückrollten, von gesperrten Zugtoiletten und merkwürdigen Durchsagen des Personals. Eine von ihnen beispielsweise ermahnte „junge Sportlerinnen und Sportler“, die es sich in der ersten Klasse bequem gemacht hätten.

Die etwa einstündige Überfahrt nach Norderney wurde überwiegend ereignislos und ohne Seekrankheit bewältigt. Höhepunkt jeder Fährfahrt: Robben auf einer Sandbank beim Sonnenbad. Der aktuelle Rekord steht bei 73 Tieren. Die LG Lippe Süd organisierte mit ihren Fahrzeugen den Transfer vom Hafen zum üppig ausgestatteten Gästehaus der Insel. Wie beim Schulausflug hieß es: Zimmer beziehen und Betten machen – für manche eine schier unlösbare Aufgabe. Und dann der große Schock: Auch die Handys wurden eingesammelt! Das war mit den Eltern abgestimmt. Täglich zwischen 18:00 Uhr und 20:00 Uhr standen sie wieder zur Verfügung.

Ein Trainingslager dient, wie der Name es sagt, dem Training: Drei Stunden am Vormittag, drei Stunden am Nachmittag und abends noch in die Halle. Eigentlich hätten die Kinder danach todmüde ins Bett fallen müssen, aber todmüde waren nur die Trainer…

Mittwochs stand regelmäßig eine Auszeit auf dem Programm. Zunächst ein Besuch im Wellen-Hallenbad und danach ein Stadtrundgang. Wirklich interessant, was alles als Souvenir für die Eltern daheim in Betracht kam. Ein weiters Phänomen war regelmäßig zu beobachten: Waren am Anfang des Trainingslagers die Beziehungen zu den Sportlern der LG Lippe Süd noch recht unterkühlt, entwickelten sich später bei den Jugendlichen einige heiße Flirts.

Internationales Kräftemessen –
ein Insider berichtet

Sportlern anderer Nationen zusammenkommen und mit Glück und Können auch noch einen Titel gewinnen – all das macht die Teilnahme an einer Europa- oder Weltmeisterschaft so erlebenswert.

Das ist die 4×100-Meter-Staffel (Wechsel Buschung auf Bellerich), die 2009 Süddeutscher Meister wurde.

Als Senior ist man dabei in der glücklichen Lage, sich die passenden Wettbewerbe an den schönsten Orten aussuchen zu können – man darf mitmachen, aber man muss ja nicht. Ist der passende Wettkampf gefunden, muss das entsprechende Meldeformular des DLV möglichst fehlerfrei ausgefüllt werden. Und man kann schon einmal nachschauen, ob das Trikot mit der Aufschrift „Germany“ auffindbar ist und noch passt. Die Reiseplanung muss strategisch erfolgen: Das Hotel sollte sich nahe am Stadion befinden, aber auch am Meer; Innenstadt und Sehenswürdigkeiten sollten ebenso schnell erreicht werden können wie Restaurants und Cafés – man möchte ja auch die Freizeit genießen können. Zur Vorbereitung gehört auch das Googlen der anderen Teilnehmer. Hat man im dem Feld Chancen auf den Endlauf?

Angekommen am Ort des Geschehens müssen zunächst die Formalien erledigt werden. Kurze Besichtigung des Stadions und dann im Wettkampfbüro Starnummer abholen, Stellplatzkarten, Zeitpläne, Teilnehmerausweis, Fahrkarte für die öffentlichen Verkehrsmittel, Stadtpläne und so weiter.

2015 – Rolf Nucklies wird Weltmeister in Budapest

Am nächsten Tag ist der Spaß vorbei, denn der Wettkampf beginnt. Warmmachen, Starts üben, Sprints einlegen und ganz unauffällig die Gegner beobachten. Läuft einer unrund, täuscht er eine Verletzung vor? Wichtig: Nicht in ein Gespräch verwickeln lassen, die dabei erzählten Geschichten stimmen nur in den seltensten Fällen. Aber unter Sportlern herrscht eine hohe Wertschätzung. Im Wettkampf erbitterter Gegner funktioniert die Verständigung sonst auch jenseits aller Sprachhindernisse – man ist schließlich Mitglied der großen Leichtathletik-Gemeinschaft.

Eine halbe Stunde vor dem Start versammeln sich die Athleten im Callroom. Alles wird überprüft von der Identität bis zum richtigen Sitz der Startnummer. In der Gruppe wird man ins Stadion geführt. Es starten die ersten Vorläufe, die besten zwei aus einem Feld von acht kommen weiter. Im Startblock gehen einem Gedanken durch den Kopf:
Warum tue ich mir das an? Ich könnte auch am Strand liegen. Die Stimme des Starters reißt einen aus den Träumen. Der Schuss fällt – los geht’s.

Zeitsprung: Das Finale ist erreicht. Wieder Callroom, Schweigen überall, Anspannung, die mit Händen zu greifen ist. Im Startblock keine Gedanken, nur Konzentration. Nach dem Startschuss schnell auf Höchstgeschwindigkeit, das Ziel im Blick. Die Wettbewerber spürt man neben sich. Ein gutes Zeichen, denn sie sind nicht deutlich schneller. 100 Meter können so kurz und doch so lang sein. Es geht um Hundertstel, im Ziel weiß keiner der Sportler, wer gewonnen hat. Der Blick geht an die Anzeigetafel, denn dort stehen die Ziffern von Zeit und Platzierung, groß und unbestechlich. Vor dem eigenen Namen: eine Eins!

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risch gestylt geht es zur Ehrungszeremonie. Eine letzte Hürde: Die Textsicherheit bei der Nationalhymne, denn ein Prompter steht nicht zur Verfügung. Den einen überkommt maßlose Freude, der andere verdrückt eine Träne der Rührung. Beides wird festgehalten auf einem Foto, dessen Anlass man sein Leben lang in Erinnerung behalten wird.

Posieren für die Presse: Die erfolgreichen Leichtathletik-Senioren der Eintracht

Dann geht es zurück zum Flughafen. Die Sicherheitskontrolle fällt gründlich aus, ein metallischer Gegenstand erregt die Aufmerksamkeit des Kontrolleurs. Der Koffer wird geöffnet und zum Vorschein kommt zur allgemeinen Erheiterung eine Goldmedaille. Wieder daheim bleibt nur noch, die Zeitung zu informieren, die Homepage der
Eintracht zu versorgen und ein kleiner Beitrag für den Eintrachtler zu schreiben.

P.S.: Wenn die Leichtathletik-Senioren die Wiesbadener Eintracht bei Welt- und Europameisterschaften repräsentieren, dann organisieren sie dies selbst und finanzieren die Aktivitäten auch komplett aus der eigenen Tasche.

Der besondere Wettkampf:
Nervenstärke beweisen

Senioren-Europameisterschaften 2017 in Aarhus, Dänemark: Die Hochsprung-Latte liegt auf 1,77 Meter, als Rüdiger Weber anläuft. Eine Höhe, bei der der Titel zum Greifen nah ist. Er überquert die Latte, die weiße Fahne des Kampfrichters geht hoch und signalisiert die Gültigkeit des Versuchs. Dennoch hält sich die Freude in Grenzen, denn die britische Mannschaftsleitung legt einen Protest ein. Der Oberkampfrichter gibt ihm statt: Rüdiger hatte seinen Anlauf erst begonnen, nachdem die vorgegebene Zeit bereits verstrichen war. „Jetzt erst recht“, sagt er sich, überspringt im nächsten Versuch 1,80 Meter und wird gefeierter Europameister.

Der besondere Wettkampf:
Gegen den ärztlichen Rat

Senioren-Weltmeisterschaft 2003 in Puerto Rico. Im Weitsprung ist Jürgen Gasper nach den Vorleistungen „nur“ der Fünftbeste. Dazu kommt strömender Regen. Vielleicht gerade deshalb überrascht Jürgen die Konkurrenz. Im letzten Versuch springt er 5,06 Meter und wird Weltmeister seiner Altersklasse. Dabei hätte er gar nicht antreten sollen. Wegen einiger kleinerer Blessuren hatten ihm die Ärzte von einem Start bei der WM abgeraten.

Der besondere Wettkampf:
Zweisam und gemeinsam

Gemeinsames Erleben kann jeden Medaillenregen ersetzen. Thomas und Erika Höner sind dafür Beispiele. Statt des gemütlichen Spaziergangs am Sonntagnachmittag treffen sie sich mit anderen Sportlern zum Training. Für sie zählt neben den sportlichen Meriten besonders die großartige Gemeinschaft – auch jenseits des Platzes – und die gegenseitige Unterstützung. Logisch, dass für Thomas ein besonderer Wettkampf der Deutsche Vizetitel 2018 mit einer reinen Eintracht-Staffel ist. Erika wandelte sich von der Langstrecklerin früherer Jahre zur Allrounderin mit Spaß an der Technik. Bronze bei den Süddeutschen im Fünfkampf ist Ausdruck ihrer Vielseitigkeit

Der besondere Wettkampf:
Geschockte Konkurrenz trotz Zerrung

Hallen-Weltmeisterschaft der Senioren 2015 in Budapest: 3,60 Meter im Stabhochsprung sind eine gute Höhe für Rolf Nucklies, für ganz vorne reicht es aber nicht. Eine Oberschenkelzerrung bremst ihn, seine Versuche geraten zu vorsichtig. Im Zwischenklassement belegt er Platz drei. Er will mehr und greift zu einem härteren Stab. 3,70 Meter überwindet Rolf im ersten Versuch – die Konkurrenz ist geschockt, keiner kann das Ergebnis toppen. Rolf muss keinen Wettkampfsprung mehr machen, der Oberschenkel hätte es ohnehin nicht zugelassen. Und doch springt er noch einmal – auf das oberste Treppchen bei der Siegerehrung.

Der besondere Wettkampf:
Die Erfüllung eines Traums

Es sind nicht immer die großen Titel und Meisterschaften, die prägen. Als Jugendlicher ist Manfred Nink auf der Mittelstrecke und der langen Hürdenstrecke zu Hause. Erst jenseits des sechzigsten Lebensjahrs entdeckt er das Stabhochspringen für sich. Sein Ziel: drei Meter zu überspringen. Schnell nähert er sich seinem Traum, 2,50 Meter, 2,80 Meter. Es folgt ein Hochsprungmeeting in Oppenheim. Trotz Regen lässt Manfred direkt drei Meter auflegen. Im dritten Versuch schafft er diese Höhe. Sein persönlicher Traum hat sich erfüllt und erfährt sogar noch eine Erweiterung. Im zarten Seniorensportler-Alter von 65 steigert er seine Bestmarke um weitere zwei Zentimeter.


Der besondere Wettkampf:
Schnelle Beine in der alten Heimat

Hallen-Weltmeisterschaft der Senioren 2004 in Sindelfingen: Für den gebürtigen Schwaben Ulf Restle ist es die erste WM-Teilnahme. Dass der Austragungsort Sindelfingen ist, ist für ihn Motivation und Belastung zugleich. Im Wettkampf wachsen ihm dann Flügel. Trotz starker Konkurrenz qualifiziert er sich für den Endlauf über 60 Meter. Mit einem neuen deutschen Rekord kommt er als Zweiplatzierter ins Ziel. Die euphorische Stimmung durch diesen Erfolg soll sich auch auf die 4×200-Meter-Staffel übertragen. Die Konkurrenz aus den USA und Großbritannien scheint aber übermächtig. Als Startläufer soll Ulf auf Augenhöhe mit der Konkurrenz bleiben. Das funktioniert. Und auch der Wunsch, die letzte Staffelübergabe mit Vorsprung zu absolvieren, geht in Erfüllung. Es folgen bange Sekunden, denn die US-Staffel holt immer weiter auf. An Ende aber reicht es für die deutsche Staffel: Sie werden Weltmeister und das in neuer Weltrekordzeit