Ernst Theel zieht als Kriegsheimkehrer Akten aus den Trümmern der Eintracht-Turnhalle. Ein halbes Jahrhundert später wird er zum Chronisten des Vereins – und zum Retter seiner Geschichte.
Von Lorenz Hemicker
Ernst Theels Verbindung mit dem Erbe unseres Vereins begann in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Ende 1946 war der junge Wiesbadener aus der Gefangenschaft zurückgekehrt: Minen räumen in Dänemark, nach Jahren bei der Kriegsmarine. Aus den Überresten der zerbombten Eintracht-Gebäude in der Hellmundstraße 25 zog er damals nach dem Feldhandballtraining auf den Schlackeplätzen in der Nähe des Hauptbahnhofs verstaubte, angebrannte und zerfledderte Akten, gemeinsam mit vielen anderen Eintrachtlern.
Danach sollte es noch ein knappes halbes Jahrhundert dauern, bis aus der flüchtigen Begegnung zwischen Ernst und den Akten zu einer intensiven Beziehung wurde. In den 90er Jahren arbeitete er als Revisor beim Verband für Filmverleihe. Da war der letzte Archivar des Vereins schon zehn Jahre lang tot. Das 150. Vereinsjubiläum nahte. Der Verein fragte sich, wohin gehen will – und woher er kommt.
Ernst, den Ruhestand bereits vor Augen, nahm sich letzterer Frage an. Er stürzte sich in die Vergangenheit. „Alles war Kraut und Rüben“, sagt Ernst heute und lächelt verschmitzt, so wie er es häufig tut. Die Begeisterung für den Sport und seinen Verein ist bis heute geblieben. Mit seinen 95 Jahren, davon 88 als Eintrachtler, ist ernst nach wie auf dem Laufenden, wenn es um seinen Verein geht. Mit Computer, Smartphone und Tablet verfolgt er alles, was rund um die Eintracht so passiert. Und mit seinem Archiv.
Als Ernst zum Hüter unserer Vergangenheit wurde, wusste er noch nicht, wie groß die Aufgabe werden würde, die er sich da aufgebürdet hatte. Das änderte sich, als er die Hinterlassenschaften genauer in Augenschein nahm, in einem wohnzimmergroßen Raum der Eintracht-Geschäftsstelle in der Hellmundstraße 55. „Die Akten lagen dort zum Teil so, wie sie aus den Trümmern geholt worden waren“, sagt Ernst, während er sich erinnert. Er stieß auf Verträge und auf Bankunterlagen, die zum Teil noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammen. Stumme Zeugen einer dunklen Vergangenheit.
Ernst war beruflich anfangs noch viel unterwegs. Nicht immer schaffte er in seiner ehrenamtlichen Zeit in der Geschäftsstelle sein Pensum, dass er sich vorgenommen hat. Immer wieder nahm er Archivmaterial mit nach Hause, um es zu sortieren. Zum Leidwesen seiner Frau. Die Akten rochen, so wie alte Akten riechen. „Lass‘ mir das Zeug hier aus der Wohnung“, habe seine Frau, selbst Vollblut-Sportlerin, dann immer gesagt. Sie ist schon länger tot.
Ernst sortierte nicht nur. Im Schulterschluss mit weiteren Vereinsmitgliedern schaffe er günstig Schränke und Vitrinen an, um die Akten, Pokale und Fotos adäquat zu lagern. Was Computer angehe, sei er damals noch ein richtiger Laie gewesen, so Ernst, für den Tablets und Smartphones heute längst zum Alltag zählen. Damals tüftelte er mit Hilfe der vorhandenen Technik ein ausgeklügeltes System aus. Er kategorisierte nach Abteilungen und chronologisch. Sein Ziel: Wer etwas suchte, sollte es schnell finden können. Alles hatte seinen Platz.
Das musste auch sein, denn die Geschichte blieb naturgemäß nicht stehen. Abteilungen entstanden und lösten sich auf: Die Prellballer etwa, bei denen Ernst dreißig Jahre lange spielte. Sportliche Erfolge wechselten sich ab mit manchem Tiefschlag. So ging es lange Zeit.
Das letzte Mal in der Geschäftsstelle war Ernst vor nunmehr drei Jahren. So sportlich er bis heute aussieht – stehen oder gar laufen kann der Hüter unserer Vergangenheit heute nicht mehr. Ohne Aufzug im Haus, in dem er heute wohnt, bliebt Ernst, mit den Kopf und mit dem Herzen an seine vielfältigen Wirkungsstätten im Verein zu reisen. Oder mit den Eintrachtlern, die ihn besuchen, sich über die jüngsten Entwicklungen auszutauschen.
Wer ihn fragt, welchen Wunsch er noch hat, dem drückt er ein Schreiben in seine Hand, dessen Tenor sich so zusammenfassen lässt. Seine Arbeit für die Bewahrung unserer Vereinsgeschichte soll nicht umsonst gewesen sein. „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ Das Zitat stammt von August Bebel, dem Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Es ist über hundert Jahre alt. Ernst würde es wohl so unterschreiben.